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Cum-Ex-Aktiengeschäfte und die Frage nach den Verantwortlichen

7. Dezember 2023

Folgt man der Rechtsprechung und dem Einheitstenor der hierzu vernehmbaren Medienberichterstattung, sind die Verantwortlichen allein im Kreis der Anleger, Banker und deren Berater zu suchen. Zweifel hinsichtlich dieses entsprechend einseitig gezeichneten Bildes werden aber unübersehbar, sofern sich der Blick mit der gebotenen Vollständigkeit auf die betroffenen Sachverhalte richtet. Zumindest wird die angesprochene einseitige Zuordnung der Verantwortlichkeit dann in entscheidendem Maße relativiert. Dies und die hieraus für die strafrechtliche Beurteilung der Cum-Ex-Aktiengeschäfte zu ziehenden Konsequenzen sollen nachfolgend anhand nur einiger weniger Beispiele verdeutlicht werden.
Aktiengeschäfte unter den Augen der Finanzverwaltung

Unter anderem zu berücksichtigen ist Folgendes:

  • Die Cum-Ex-Aktiengeschäfte und die mit diesen verbundenen Steuerrechtsfragen sind im steuerrechtlichen Fachschrifttum bereits in den Jahren vor 2007 offen, wenn auch kontrovers diskutiert worden.
  • Hieran beteiligt haben sich auch Vertreter der Finanzverwaltung und auf Beraterseite unter anderem auch Hanno Berger. Noch in seinem Urteil vom 16. April 2014 – I R 2/12 – (BFH/NV 2014, 1813; Zu dieser Entscheidung wird nachfolgend noch ergänzend ausgeführt.) nimmt der I. Senat des Bundesfinanzhofs (BFH) auf einen Fachbeitrag Bezug (unter Tz. 31 des vorgenannten Urteils), den Berger zur für Cum-Ex-Geschäfte wesentlichen Thematik des Erwerbs wirtschaftlichen Eigentums im Jahr 2011 veröffentlicht hatte.
  • Bereits in den Jahren 2006, 2008 und 2009 haben Rechtsanwälte von Freshfields jeweils vor einem größeren Kreis von Finanzbeamten in der Bundesfinanzakademie, das heißt in der Aus- und Fortbildungsstätte für Führungskräfte der Steuerverwaltungen der Länder und des Bundes, Vorträge zu Cum-Ex-Aktiengeschäften mit Leerverkäufen gehalten, unter Darlegung der Rechtslage aus Sicht der Vortragenden und der mit dieser Rechtslage verbundenen Konsequenz, dass eine einmal einbehaltene Kapitalertragsteuer mehrfach zur Anrechnung gebracht wird.
  • Die für das Besteuerungsverfahren zuständigen Bundesländer haben sich über ihre Landesbanken selbst bereits frühzeitig, nämlich spätestens seit dem Jahre 2004, in großem Umfang an Cum-Ex-Aktiengeschäften beteiligt und in Bezug auf diese dabei zugleich eine Vorreiterrolle übernommen. „Die Cum-Ex-Geschäfte waren kein Geheimnis (…). Im Gegenteil: Wir bekamen Anfang des Jahres gesagt, in welcher Höhe Steuererstattungen geplant waren, und dann wurde entsprechend gehandelt.“ –So eine im Handelsblatt veröffentlichte Aussage eines Händlers der WestLB. Hiernach war die Höhe der über Cum-Ex-Aktiengeschäfte zu generierenden Steuererstattungen also fester Bestandteil der Ergebnisplanung der landeseigenen Bank zu Beginn eines jeden Geschäftsjahres.

All dies und noch viel mehr an vergleichbaren Erkenntnissen wurde bereits durch den im Jahre 2016 eingesetzten Cum-Ex-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages festgestellt. Einen vollständigeren Überblick hierzu vermittelt Salditt, in Festschrift (FS) für Leitner, 2022, Seiten 461ff.

Es kann deshalb keine Rede davon sein, selbst erfahrenen Finanzbeamten seien die Cum-Ex-Geschäfte und eine mit diesen verbunden gewesene systematische Steuerhinterziehung verborgen geblieben, und Berger habe strukturelle Schwachstellen der Finanzverwaltung genutzt, um diese Geschäfte durchzuführen. In Wahrheit waren die rechtliche Struktur und das wirtschaftliche Ergebnis dieser Geschäfte (Mehrfachanrechnung einer einmal abgeführten Kapitalertragsteuer) auch auf Seiten der Finanzverwaltung bereits frühzeitig bekannt. Die Cum-Ex-Aktiengeschäfte wurden unter den Augen der Finanzverwaltung offen betrieben.

Als ein auf vorsätzliche Steuerhinterziehung gerichtetes Geschäftsmodell wurden diese Geschäfte aber, auch auf Seiten der Finanzverwaltung, – offensichtlich – nicht bewertet. Andernfalls hätten strafrechtliche Ermittlungen bereits entsprechend frühzeitig von der Finanzverwaltung, die mit ihren Strafsachenstellen und den zugehörigen Steuerfahndungsstellen über eigene, auf das Steuerrecht spezialisierte Ermittlungseinheiten (im Sinne einer Steuer-Staatsanwaltschaft mit zugehörigem Fahndungsapparat) verfügt, eingeleitet werden können und eingeleitet werden müssen, was aber, ungeachtet des bei der Finanzverwaltung zu den Cum-Ex-Geschäften vorhanden gewesenen Kenntnisstandes nicht geschehen ist. Die schließlich in Gang gesetzten Ermittlungsverfahren sind von der Staatsanwaltschaft eingeleitet worden, nicht von auf das Steuerstrafrecht spezialisierten Strafsachenstellen der Finanzverwaltung.

Zur Rolle des Bundesfinanzhofs

Auch wurde die steuerrechtliche Einordnung der Cum-Ex-Geschäfte durch deren Protagonisten gemäß den Feststellungen des vorgenannten Untersuchungsausschusses in entscheidender Weise beeinflusst durch die Rechtsprechung des I. Senats des BFH zum Übergang des wirtschaftlichen Eigentums bereits bei Abschluss des schuldrechtlichen Erwerbsvertrages. Grundlegend hierbei war ein Urteil vom 15. Dezember 1999 (BFH – I R 29/97 –, BStBl. 2000 II, 527). Salditt (a. a. O., Seite 482) spricht in diesem Zusammenhang –zutreffend – von „einer Magna Charta der Cum-Ex-Praxis“. An dieser Rechtsprechung hat der I. Senat des BFH in seinem Urteil vom 20. November 2007 – I R 85/05 – (BStBl. 2013, 287) sowie auch in einem Gerichtsbescheid vom 06. März 2013 (BFH – I R 2/12 –) jeweils auch noch uneingeschränkt festgehalten.

Erst mit Urteil vom 16. April 2014 (BFH – I R 2/12 -, a. a. O.) hat das Gericht – in Korrektur zum im selben Verfahren vorausgegangenen vorgenannten Gerichtsbescheid vom 6. März 2013 – seine Beurteilung dann partiell eingeschränkt, nämlich für Cum-Ex-Fälle mit „der weithin üblichen Gestaltungspraxis“, bei der der Transaktion ein „modellhaft aufgelegtes Gesamtvertragskonzept zugrunde (liegt), das dem Erwerb von wirtschaftlichem Eigentum …von vornherein entgegensteht.“ – Obwohl der BFH diese Rechtsprechungskorrektur erst mit Urteil vom 16. April 2014 (BFH – I R 2/12 -, a. a. O.) vorgenommen hat, wird sie den an den Geschäften Beteiligten auch bereits in Bezug auf in den Jahren vor 2014 durchgeführte Cum-Ex-Aktiengeschäfte belastend entgegengehalten; vgl.: Bundesgerichtshof (BGH), Urteil vom 28. Juli 2021 – 1 StR 519/20 –, Rdnr. 80.

Dass aufgrund der bis zum April 2014 einschlägigen Rechtsprechung des BFH (gemäß Urteil vom 15. Dezember 1999 – I R 29/97) eine vom I. Senat des BFH in Kauf genommene auch mehrfache Zurechnung des wirtschaftlichen Eigentums möglich war (vgl. Salditt, a. a. O. Seite 482, Bezug nehmend auf die entsprechenden Feststellungen im Bericht des oben genannten Untersuchungsausschusses), hierzu und zu der hiermit verbundenen Implikation für die strafrechtliche Beurteilung, verhält sich auch der 1. Strafsenat des BGH nicht.

Zugleich spricht es aber auch hinsichtlich der Frage der Offenkundigkeit der Struktur der Cum-Ex-Geschäfte Bände, wenn selbst der BFH in seinem Urteil vom 16. April 2014 (– I R 2/12 –, a. a. O.) von „der weithin üblichen Gestaltungspraxis“ dieser Geschäfte ausgeht.

Reaktion des Gesetzgebers

Dass die Finanzverwaltung schon frühzeitig Kenntnis hatte von der Cum-Ex-Praxis und der mit dieser verbundenen Mehrfachanrechnung von Kapitalertragsteuern, und dass dem auch keine steuerstrafrechtliche Bedeutung beigemessen worden ist, wird auch deutlich, wenn man berücksichtigt, dass mit dem Jahressteuergesetz 2007 der Gesetzgeber tätig wurde und die inländischen Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute eines Leerverkäufers zur Abführung von Kapitalertragsteuer verpflichtet hat. Lässt dies doch darauf schließen, dass auch die Exekutive und der Gesetzgeber entsprechenden gesetzlichen Regelungsbedarf gesehen haben, um der auf Mehrfachanrechnung gerichteten Vertragspraxis wirksam entgegentreten zu können.

Wäre es nur darum gegangen, eine auf alter Gesetzesgrundlage betriebene Hinterziehungspraxis zu beenden, wäre die Einleitung von steuerstrafrechtlichen Ermittlungsverfahren durch die hierzu mit eigenen Strafsachenstellen ausgestattete Finanzverwaltung das geeignete und notwendige Mittel gewesen, nicht hingegen eine gesetzliche Neuregelung. Die mit dem Jahressteuergesetz 2007 getroffene Änderung im Gesetz lässt vielmehr auf ein zuvor bestehendes und für die Cum-Ex-Geschäfte genutztes Regelungsdefizit in Gestalt einer unzulänglichen Ausgestaltung des gesetzlich vorgegebenen Steueranrechnungssystems schließen.

Mit dem Jahressteuergesetz 2007 behoben wurde dieser Systemfehler dann aber auch nur für reine Inlandssachverhalte, nicht auch für Fälle, in denen ausländische Kredit- und Finanzdienstleistungsinstitute für den Leerverkäufer tätig wurden. Ungeachtet der bereits im laufenden Gesetzgebungsverfahren diesbezüglich von mehreren Seiten erhobenen Warnhinweise, blieben solche Auslandssachverhalte bei der getroffenen Neuregelung unberücksichtigt. Zugleich lieferte die mit der Neuregelung verbundene Gesetzesbegründung geeignete Anhaltspunkte, die auf eine vom Gesetzgeber für Auslandssachverhalte unverändert und bewusst in Kauf genommene verbleibende Systemlücke schließen ließen, die deshalb in der Folgezeit von der einschlägigen Geschäftspraxis auch konsequent genutzt wurde.

Frage nach dem Hinterziehungsvorsatz

Auch wenn man die Cum-Ex-Aktiengeschäfte im Ergebnis als steuerrechtlich nicht tragfähig erachtet, lässt dies nicht bereits ohne weiteres auf ein vorsätzlich betriebenes Steuerverkürzungshandeln der beteiligten Akteure schließen. Für den Vorwurf vorsätzlich betriebener Steuerhinterziehung ist jedenfalls dann kein Raum, wenn die Vertragsbeteiligten von einer steuerrechtlich tragfähigen Gestaltung ausgegangen sind. Gewichtige Anknüpfungspunkte hierfür bieten aber die aus dem Bericht des Deutschen Bundestages ersichtlichen Sachverhalte, die auch Gegenstand der Betrachtung von Salditt (a. a. O.) sind und die vorstehend nur beispielhaft angesprochen werden. Soweit es um die Frage geht, ob ein an den Geschäften Beteiligter (Berater, Banker, Anleger) mit Hinterziehungsvorsatz gehandelt hat oder nicht, wird man diese Sachverhalte deshalb auf jeden Fall in die Betrachtung und die Beurteilung mit einbeziehen müssen.

Gegen ein auf vorsätzliche Steuerhinterziehung gerichtetes Handeln spricht hierbei nicht zuletzt der Umstand, dass Rechtsanwälte von Freshfields, denen eine für die Cum-Ex-Geschäftspraxis maßgebliche Rolle auf Beraterseite beigemessen wird, die Cum-Ex-Aktienschäfte und die mit diesen verbundene Mehrfacherstattung einer einmal einbehaltenen Kapitalertragsteuer gleich mehrfach zum Gegenstand von Fachvorträgen in der Bundesfinanzakademie gemacht haben. Wer Steuern verkürzen will, dies zumindest billigend in Kauf nimmt, trägt sein Vertragskonzept und die hiermit für den Fiskus verbundenen wirtschaftlichen Konsequenzen nicht vor führenden Vertretern der Finanzverwaltung vor. Diese Vorgehensweise lässt vielmehr darauf schließen, dass man auf Seiten der Berater die steuerrechtliche Tragfähigkeit der Cum-Ex-Geschäfte für außer Zweifel stehend angesehen hat und zugleich offenbar der Meinung war, in Sachen steueroptimierter Vertragsgestaltung den „Stein der Weisen“ gefunden zu haben.

Gegen Hinterziehungsvorsatz sprechende Anhaltspunkte

Aufgrund des Blankettcharakters des § 370 Abs. 1 AO ist der Steueranspruch Teil des Hinterziehungstatbestandes. Nach der auch vom 1. Strafsenat des BGH vertretenen Steueranspruchstheorie handelt deshalb nur der vorsätzlich im Sinne von § 370 Abs. 1 AO, der im Bewusstsein handelt, durch sein Handeln einen Steueranspruch zu verkürzen, dies zumindest billigend in Kauf nimmt. Berücksichtigt man aber die Vortragsaktivitäten der Freshfields-Rechtsanwälte und die übrigen vom Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestages festgestellten Anknüpfungstatsachen, nämlich dass (unter anderem)

  • die steuerrechtlichen Begründungsgrundlagen der Cum-Ex-Aktiengeschäfte bereits durch die vorstehend angesprochene Rechtsprechung des höchsten deutschen Steuergerichts in entscheidendem Maße vorgezeichnet worden sind,
  • die Cum-Ex-Aktiengeschäfte über mehr als eine Dekade hinweg unter den Augen und mit Wissen der Finanzverwaltung und der politisch Verantwortlichen betrieben werden konnten und betrieben worden sind,
  • sich die für das Besteuerungsverfahren zuständigen Bundesländer über ihre Landesbanken bereits frühzeitig auch selbst als bedeutende Akteure in großem Umfang an diesen Geschäften beteiligt haben, und
  • die Cum-Ex-Aktiengeschäfte hierbei den Strafsachenstellen der Finanzverwaltung –über einen entsprechend langen Zeitraum hinweg – zu keiner Zeit Veranlassung gegeben haben, diese Geschäftspraxis als vorsätzlich betriebene Steuerhinterziehung einzustufen und hierzu steuerstrafrechtliche Ermittlungen einzuleiten,

so sind dies alles Anknüpfungspunkte, die gegen die Annahme sprechen, den an den Cum-Ex-Geschäften Beteiligten (Anleger, Banker und deren Berater) sei die fehlende steuerrechtliche Tragfähigkeit der Geschäfte bewusst gewesen, und sie hätten mit Hinterziehungsvorsatz gehandelt.

Hierbei geht es, insbesondere beim Hinweis auf die Cum-Ex-Aktivitäten der Landesbanken, nicht um eine – rechtlich unzulässige – Gleichbehandlung im Unrecht. Vielmehr ist den angesprochenen Anknüpfungspunkten, auch soweit die Cum-Ex-Aktivitäten der Landesbanken betroffen sind, bereits Indizwirkung hinsichtlich des objektiven Besteuerungstatbestandes und hierüber zugleich auch für die Frage des Hinterziehungsvorsatzes beizumessen. Wenn sich auch die Bundesländer über ihre Landesbanken schon sehr frühzeitig, über viele Jahre hinweg und in erheblichem Umfang an der Durchführung von Cum-Ex-Aktiengeschäften beteiligt haben, ließ dies – für andere Beteiligte an Cum-Ex-Geschäften – indiziell auf eine steuerrechtliche Tragfähigkeit der Vertragsgestaltungen und damit gegen ein Handeln mit Hinterziehungsvorsatz schließen. Entsprechendes gilt aber auch für die übrigen vorstehend – beispielhaft – angesprochenen Anknüpfungstatsachen. Jedem dieser Anhaltspunkte und erst recht deren Gesamtschau ist eine Beweiswirkung beizumessen, die gegen ein von Hinterziehungsvorsatz getragenes Handeln der an den Cum-Ex-Geschäften Beteiligten (Anleger, Banker und deren Berater) spricht. Auf jeden Fall aber werfen diese Anknüpfungspunkte erhebliche Fragen und hierdurch bedingten zusätzlichen Erörterungs- und Begründungsbedarf auf, weshalb speziell den an den Aktiengeschäften beteiligt gewesenen Beratern, Bankern und Anlegern der Strafvorwurf vorsätzlichen Verkürzungshandelns treffen soll.

Verantwortlichkeit von Politik und Finanzverwaltung

Wertet man die Cum-Ex-Thematik als steuerrechtlichen Skandal, wird man, bei Berücksichtigung des Vorstehenden, die hierfür Verantwortlichen vorrangig bei der Finanzverwaltung und bei den politisch Verantwortlichen suchen müssen. Haben diese es doch versäumt, die vorhandenen gesetzlichen Regelungsdefizite bereits ausreichend frühzeitig und mit Blick auf die der Verwaltung und dem Gesetzgeber transparent gewesene Vertragspraxis auch uneingeschränkt zu beheben. Wenn man schon die an den Geschäften beteiligt gewesenen Anleger, Banker und deren Berater strafrechtlich zur Verantwortung zieht, stellt sich zumindest die Frage, weshalb dies nicht in gleicher Weise hinsichtlich der Verantwortlichen aus Politik und Verwaltung geschieht. Stattdessen wird es der Strafjustiz überlassen, hierfür eigens ausgestattet mit zeitlich ausufernden Regelungen zur Strafverfolgungsverjährung in Steuerhinterziehungsfällen, allein die an den Geschäften beteiligt gewesenen Berater, Banker und Anleger wegen der Cum-Ex-Thematik in die strafrechtliche Verantwortung zu nehmen.

Die einseitige Blickrichtung der Strafgerichtsbarkeit

Dem kommen die Strafverfolger und die Strafgerichte dann auch – geflissentlich – in der Weise nach, dass die vorstehend angesprochenen Sachverhalte und die hieraus resultierenden Verantwortlichkeiten (des Gesetzgebers, der Finanzbehörden und nicht zuletzt auch der Finanzgerichtsbarkeit) als grundsätzlich nicht erheblich eingestuft und behandelt werden. Soweit die Sachverhalte überhaupt thematisiert werden, geschieht dies eher unauffällig und allenfalls am Rande, in weiten Teilen werden sie aber auch unterdrückt bzw. als die vom Gericht ohnehin eingeschlagene Zielrichtung nur störend bei Seite gewischt; vgl. hierzu auch Salditt, a. a. O., Seite 488; sehr erhellend hierzu auch der Beitrag von Heuel/Sauren, in FS 75 Jahre Steuerberater-Verband Köln, 2022, Seiten 407ff. – In den Urteilsbegründungen der Landgerichte findet eine Erörterung hierzu praktisch nicht statt, jedenfalls nicht in der diesen Sachverhalten gebührenden Vollständigkeit. Die aus den Urteilsbegründungen ersichtliche Beweiswürdigung erweist sich insoweit jeweils als erheblich defizitär. Hinzu kommt, dass selbst Teile des objektiven Sachverhalts von den Landgerichten nicht abschließend und vollständig aufgeklärt werden (vgl. hierzu
Heuel/Sauren, a. a. O., Seiten 421f.). Selbst bei der Strafzumessung finden die angesprochenen Sachverhalte und die von ihnen ausgehende erheblich strafmildernde Wirkung nicht die gebotene Berücksichtigung.

Der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs lässt all dies unbeanstandet.

Das Argument der Mehrfachanrechnung einer einmal gezahlten Kapitalertragsteuer

Stattdessen kapriziert sich die Rechtsprechung (Landgerichte und BGH) auf den steuerrechtlich laienhaften Begründungsansatz, die Cum-Ex-Geschäfte könnten bereits deshalb – steuerrechtlich und in der Folge auch strafrechtlich – nicht legal sein, weil dies zur – aus Sicht der Rechtsprechung unmöglichen – Folge hätte, dass eine einmal gezahlte Kapitalertragsteuer mehrfach angerechnet bzw. erstattet wird. Dies scheide bereits denknotwendig aus und lasse deshalb notwendig auf Hinterziehungsvorsatz schließen; (vgl. Heuel/Sauren, a. a. O., Seite 411). Die bisher bekanntgewordenen Urteilsbegründungen werden im Wesentlichen von diesem Gedanken geleitet und erweisen sich zugleich als entsprechend ergebnisorientiert abgefasst. Dass diese Argumentation nicht zuletzt einen Zirkelschluss beinhaltet (bei dem vorausgesetzt wird, was zu beweisen ist, was als revisionsrechtlicher Kapitalfehler einzustufen ist), bleibt einer ausführlichen gesonderten Betrachtung vorbehalten und sei hier nur am Rande erwähnt.

Diese aufgrund kognitiver Dissonanz (gemäß der Annahme „Es kann nicht sein, was nicht sein darf“) beim Betrachter ausgelöste Argumentation, zieht sich aber auch nahezu flächendeckend durch die gesamte Medien-Berichterstattung zur Cum-Ex-Thematik. Es findet sich so gut wie kein Beitrag, in dem nicht im Kern und in der Argumentation entscheidend auf diesen (Grund-)Gedanken zurückgegriffen wird. Verbunden mit der Bezeichnung als „größter Steuerraub der letzten Jahrzehnte“ wird dieser Gedanke als das –vermeintliche – strafrechtliche „Totschlagsargument“ gegen die Cum-Ex-Aktiengeschäfte und die am Zustandekommen dieser Geschäfte beteiligten Protagonisten verwendet.

Dass es der I. Senat des BFH war, der mit seinem Urteil vom 15. Dezember 1999 (– I R 29/97 –, a. a. O.) die mögliche mehrfache Zurechnung des wirtschaftlichen Eigentums bewusst in Kauf genommen und damit zugleich auch die argumentative Grundlage für eine Mehrfachanrechnung einer gezahlten Kapitalertragsteuer gelegt hat (vgl. hierzu bereits vorstehend), bleibt hierbei unberücksichtigt. Vollständig verkannt wird hierbei aber auch, dass sich das Steuerrecht durch eine Vielzahl von Verwerfungen auszeichnet, in die sich die in Rede stehende Mehrfachanrechnung ohne weiteres einreihen lässt. Zu nennen sind hierbei, neben vielen anderen,

  • die Doppelbesteuerung von Einkommen zuhauf im Gewerbesteuergesetz,
  • die Doppel- und Dreifachbesteuerung im internationalen Steuerrecht,
  • die Doppelbesteuerung von Kapitaleinkünften, sofern es zu Anrechnungsüberhängen kommt,
  • die Nichtberücksichtigung von Verlusten oder Finanzierungsaufwendungen und
  • die Regelung des § 25f UStG, über den die Finanzverwaltung mehr an Steuern vereinnahmt, als nach den zu Grunde liegenden Leistungsbeziehungen nach dem Umsatzsteuergesetz entstanden sind.
  • Beim Solidaritätszuschlag wird die individuelle Einkommensteuerbelastung (!) gar zur Bemessungsgrundlage für die Abgabenerhebung gemacht. Das heißt, es kommt zu einer Abgabenerhebung auf die schon bestehende Steuerlast und damit zu einem potenzierten Abgabenzugriff.
  • Zu nennen ist in diesem Zusammenhang aber auch die sogenannte kalte Steuerprogression, bei der es, und dies nicht nur bei der Einkommensteuer, infolge rein inflationsbedingter Nominalwerterhöhungen zum erhöhten Steuerzugriff kommt, ohne dass dem auf Seiten der Steuerpflichtigen eine erhöhte materielle Leistungsfähigkeit zugrunde liegt.

In all diesen Fällen, für die sich eine Vielzahl weiterer Beispiele nennen lässt, betreibt die Finanzverwaltung gewissermaßen Cum-Ex-Geschäfte im umgekehrten Sinne. Kommt es hierbei doch jeweils auf materiell gleicher Grundlage zu einem mehrfachen Abgabenzugriff zu Lasten des Steuerzahlers.

Dass all dem in vergleichbarer Weise auf breiter Front und mit entsprechend vehement artikuliertem Widerspruch entgegengetreten wird, wie dies hinsichtlich Mehrfachanrechnungen in Cum-Ex-Fällen geschieht, ist allerdings nicht feststellbar. Vom Gesetzgeber und von der Rechtsprechung, bis hin zum Bundesverfassungsgericht, werden diese Tatbestände mit unterschiedlichen Argumenten – als „Unwuchten“ (so der Bundesfinanzhof) oder als „zulässige Pauschalierungen“ oder „Klarstellungen“ (so der Gesetzgeber) – bagatellisiert und im Ergebnis – achselzuckend – hingenommen. Gemessen an der Vielzahl solcher im Steuerrecht feststellbaren und allgemein widerspruchslos akzeptierten gesetzlichen Ungereimtheiten, erweist sich aber auch die Möglichkeit der Inanspruchnahme von Steuermehrfachanrechnungen – bei von steuerrechtlicher Expertise getragener Beurteilung – nicht ohne weiteres als Anknüpfungspunkt, der notwendig auf vorsätzliches Hinterziehungshandeln schließen lässt. Vielmehr stellt sich hierbei vorrangig die Frage nach der inhaltlichen Vollständigkeit und Stimmigkeit des gesetzlich vorgegebenen Steuer-Anrechnungssystems, für das aber allein der Gesetzgeber verantwortlich ist, nicht sind es die Anleger, Banker und deren Berater.

Unvollständige Beweiswürdigung

All den vorstehend angesprochenen Erkenntnissen ist Erheblichkeit jedenfalls für die subjektive Seite des Handelns der Berater, Banker und Anleger beizumessen, die an den Cum-Ex-Geschäften beteiligt waren. Indem sich die Ermittler und die Rechtsprechung, in der Annahme, die – gemessen am politischen Zeitgeist – „Richtigen“ zu treffen, an Beratern, Bankern und Anlegern abarbeiten und hierbei die vorstehend angesprochenen Sachverhalte und das viele Jahre, ja Jahrzehnte währende einschlägige Handeln bzw. Unterlassen der Verantwortlichen in Politik und Finanzverwaltung und die damit zwangsläufig verbundene „(bedingt-vorsätzliche) systemische Selbstgefährdung“ (Salditt, a. a. O., Seite 488), praktisch vollständig ausblenden und bei der Beweiswürdigung unberücksichtigt lassen, und indem diesen Sachverhalten selbst bei der Strafzumessung nicht die ihnen zumindest zukommende erheblich strafmildernde Wirkung zugestanden wird, ist dem Skandal zugleich aber auch eine Dimension beizumessen, die auf die in Cum-Ex-Fällen tätigen Ermittler und Gerichte übergreift. Die von Sommer (StraFo 2022, Seiten 262, 266) zutreffend festgestellte Erkenntnis, „dass nirgendwo brutalere Staatsmacht ausgeübt wird als dort [Anm.: im Gerichtssaal des Strafprozesses]“, wird durch den Verlauf der in Cum-Ex-Fällen bisher durchgeführten Hauptverhandlungen und durch die bislang hierzu verkündeten Strafurteile in rechtsstaatlich besorgniserregender Weise bestätigt.

Cum-Ex-„Spezialgerichtsbarkeit“

Zusätzliche Nahrung erhält diese Besorgnis aber auch durch zwischenzeitlich bekanntgewordene Überlegungen, beim Landgericht Bonn gleich eine größere Zahl zusätzlicher Strafkammern einzurichten, die dann schwerpunktmäßig die Hauptverhandlungen zu zukünftigen Cum-Ex-Anklagen in einem eigens hierfür neu errichteten Gerichtsgebäude abarbeiten sollen, aber auch dadurch, dass bereits heute die 12. Strafkammer des Landgerichts Bonn eine Art „Rekrutierungs- und Ausbildungsstelle für zukünftige Cum-Ex-Richter“ einzunehmen scheint; (vgl. hierzu Heuel/Sauren, a. a. O., Seite 415). Der Gedanke an Sondergerichte vergangener Zeiten, bzw. an unzulässige fallbezogene Ausnahmegerichte im Sinne von Art. 101 Abs. 1 GG, liegt hierbei jedenfalls nicht unbedingt fern.

Schlussbemerkung

All dies unterstreicht jedenfalls das Erfordernis, dass die angesprochenen Sachverhalte und die Bedeutung, die diesen für eine erschöpfende Beurteilung der Cum-Ex-Thematik beizumessen ist, im Gerichtssaal der betroffenen Strafprozesse, aber auch in fachlichen Stellungnahmen und in der einschlägigen Medienberichterstattung, jeweils mit dem gebotenen Nachdruck aufgezeigt bzw. geltend gemacht werden müssen. Eine gute Orientierung hierfür vermitteln die bereits angesprochenen Festschriftenbeiträge von Salditt (a. a. O.) und von Heuel/Sauren (a. a. O.).

Tillmann Hermanns ist Rechtsanwalt, Fachanwalt für Steuerrecht, Fachanwalt für Strafrecht, Köln

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